Pepes Abenteuer
Keine Minute war seit Pepes panikartiger Flucht vergangen. Währenddessen hatte er unentwegt um Hilfe gerufen, nicht bedenkend, dass auch anders Hilfesuchende auf ihn aufmerksam werden könnten, beispielsweise Megasco, die Kreischeule, oder Tercio, die Lanzenotter. (Zeichnung: Klaus W. Schmidt)
Es war unfair, dass eine so kleine und hilflose Hirschmaus zur Nachtaktivität verdammt war, nur weil sich das irgend jemand mal so ausgedacht hatte. Die meisten bösen Wesen waren doch nachts unterwegs! Lichtscheues Gesindel! Sie warteten, sie lauerten, sie schlugen zu! In ständiger Angst vor dem Eindringen von Zähnen, Krallen oder Stacheln in den Körper leben zu müssen, ob mit Gift oder ohne, war keinesfalls spaßig.
Nach Luft ringend hatte Pepe hinter einem etwas mehr als faustgroßen Stein Deckung gesucht. Ach ja, mit faustgroß ist die Faust eines Menschen gemeint. Hirschmäuse können keine Faust machen. Und dieses Mal war er nicht vor Schlangen oder Eulen weggelaufen. Dieses Mal war es etwas anderes, etwas Riesiges. Vorsichtig lugte er um den Stein herum. Sein Herz schlug doppelt so schnell wie üblich. Von Weitem konnte er sie sehen. Ganz deutlich. Es war eine völlig reglose Silhouette vor der Scheibe des Mondes. Sie sah wie eine riesige Maus mit großen runden Ohren aus, die auf einem Hinterbein stand und die Vorderpfoten weit ausgebreitet hatte. Sie musste tausend Mal größer sein, als er selbst. Mindestens. Pepe war hundertprozentig sicher. Und sie hatte ihn angestarrt. Sie starrte ihm immer noch nach. Was für Augen musste sie haben! Genau genommen hatte er gar keine Augen gesehen. Aber Pepe konnte sie fühlen, brennend heiß.
Nicht existiert
Fünfzehn Minuten später saß Pepe noch immer versteckt hinter dem Stein. Zaghaft blickte er um ihn herum und schrak zusammen: Die Riesenmaus war verschwunden. Die Scheibe des Mondes war kleiner geworden und schickte sich an, den Himmel über Mexiko zu durchwandern. Der Wüstenboden schimmerte silbern und gab der Luft von seiner gespeicherten Wärme wieder etwas zurück. Vorsichtig huschte Pepe in die Richtung, aus der er geflohen war. Alle seine Sinne waren zum Zerreißen gespannt. Nichts. Nur Steine und Kakteen. „Pepe“, ertönte eine Stimme. Pepe erstarrte in der Bewegung. Angestrengt lauschte er. Rosita! Schlagartig fiel ihm ein, dass er sie auf seiner Flucht einfach zurückgelassen hatte. Sie hatte nicht mehr existiert. Jetzt stand sie vor ihm. Empört. Komisch, dachte er. War er bislang überzeugt davon, dass Hirschmäuse keine Faust machen können, so wurde er jetzt eines Besseren belehrt. Rosita konnte es. Sie konnte alles. Deswegen musste er sie ja auch heiraten. Morgen. Verzweifelt dachte Pepe nach. Da gab es einiges, was nicht so leicht zu erklären war.
Eine Lösung
„Was sollte das, Du Idiot?“ fragte sie bebend vor Zorn. Konnte es sein, dass Rosita nichts von der Riesenmaus bemerkt hatte? „Ja, weißt Du, äh, ich…“, druckste er herum, unterbrochen von ihrer Wut: „Wie kommst Du dazu, einfach wegzulaufen, hier herumzuschreien! Was glaubst Du, wer ich bin? Ich stehe da, wie ein Idiot.“ Aus den Augenwinkeln konnte Pepe einen Feigenkaktus erkennen, dessen Silhouette im Mondlicht wie die Riesenmaus aussah. „…glaubst Du, was die anderen von mir denken…“ Es gab aber einen entscheidenden Unterschied, der von weitem aussah, wie ein Pepita-Käppi. „…verheiratet sind, dann werden andere Saiten…“ Das Pepita-Käppi bewegte sich. „…noch einmal und dann wirst Du sehen, was…“ Das Pepita-Käppi hatte Flügel. Halbherzig murmelte Pepe eine Warnung vor sich hin, bevor er in Deckung sprang. „…sofort nach Hause und dann werde ich…“ und weg war Rosita. (ks)